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Interview mit Friederike Stibane - Beauftragte für Frauen und Gleichberechtigung

Oliver Fourier: Vielen Dank, dass ich herkommen konnte ins Büro für Frauen und Gleichberechtigung. Nennen sie mir doch bitte mal ihren Vor- und Nachnamen.

Friederike Stibane: Ich bin Friederike Stibane, ich bin die Beauftragte für Frauen und Gleichberechtigung bei der Stadt Gießen.

Oliver Fourier: Was sind denn so die Ziele des Büros? Was wollen sie erreichen?

Friederike Stibane: Ich würde sagen, das übergeordnete Ziel ist, die Strukturen zu verbessern, also Gleichberechtigung und Chancengleichheit zu befördern und in diesem Zusammenhang die Strukturen so zu verändern, dass Gleichberechtigung auch stattfindet. Das allerdings findet auf vielen verschiedenen Ebenen statt. Also natürlich ist ein großer Teil unserer Arbeit Gremienarbeit, aber auch Beratungen, Einzelberatungen und zu versuchen, in der Regel mit Frauen oder mit Menschen, die keine Gleichberechtigung erfahren oder die nicht gleichbehandelt werden, in irgendeiner Form Strategien zu erarbeiten, wie sie ihr Recht einfordern.

Oliver Fourier: Wie sieht denn dann so ein Arbeitstag für sie aus?

Friederike Stibane: Das ist total unterschiedlich. Es gibt nicht zwei gleiche Tage. Wie gesagt, sehr viel Gremienarbeit. Im Moment durch Corona ist das schwieriger geworden. Wir machen viel Beratung, Einzelberatung und zweier Beratungen. Wir entwickeln Konzepte für irgendwelche Projekte, für irgendwelche Maßnahmen. Wir versuchen mit möglichst viel Beteiligung von den Betroffenen passende Angebote zu entwickeln, um die Menschen zu fördern und in ihrer Entwicklung oder bei dem Schritt, ihre Chancen gut wahrnehmen zu können.

Oliver Fourier: Und welche Menschen kommen zu ihnen? In der Regel Frauen, bzw. Menschen, die als Frauen gelesen werden?

Friederike Stibane: Sowohl als auch. Es kommen sehr unterschiedliche Menschen: Frauen, Trans*menschen, auch Männer oder manchmal Jugendliche jeden Geschlechts. Die Mehrheit sind sicherlich Cis-Frauen, aber auch alle anderen kommen hierher und das ist auch gut so. Bei der Aufzählung, die ich eben gemacht habe, über unsere Ziele und Aufgaben, möchte ich noch eine Gruppe besonders hervorheben, weil das ist immer schwierig, die unter Chancengleichheit zu fassen. Das sind eigentlich diejenigen, bei denen das Thema Gewalt eine Rolle spielt. Das sind leider relativ viele. Die, die hierherkommen, weil sie Unterstützung darin suchen, wie sie aus einer gewaltvollen Beziehung oder aus einem gewaltvollen Kontext irgendwie raus können, was sie da tun können. Nicht nur partnerschaftliche Beziehungen, sondern durchaus auch Arbeitssituationen oder aus der Nachbarschaft oder irgendwie sowas. Das ist schon ein sehr großer Schwerpunkt der Arbeit, die hier anfällt.

Oliver Fourier: Wie kamen sie denn dazu, sich zu engagieren? Was gab es für persönliche Gründe für das Engagement?

Friederike Stibane: Also, es gibt durchaus einen persönlichen Hintergrund. Ich bin Frau in einem Männerberuf, den ich gelernt habe. Ich bin Schreinerin, ich habe gelernt, dass es dort schwierig ist, akzeptiert zu werden. Ich habe gelernt, dass Männer, aber auch Frauen, einen da schon sehr schräg angucken oder nichts zutrauen. Das hat sich so durchgezogen als roter Faden in meinem Leben. Ich habe versucht, mich da trotzdem zu behaupten. Deswegen war das immer auch Thema, schlicht und einfach Chancengleichheit und ich habe nie verstanden, warum das eigentlich nicht sein soll. Warum muss ich eigentlich irgendeine Rolle erfüllen, die mir gar nicht entspricht? Und was ist daran jetzt schlecht? Das habe ich nie verstanden, warum ich nicht machen kann, was ich eigentlich möchte. Als diese Stelle ausgeschrieben wurde, da ich dachte, das passt, das interessiert mich sehr.

Oliver Fourier: Und wie unterstützen sie denn die Menschen?

Friederike Stibane: Das ist natürlich sehr, sehr unterschiedlich. Natürlich kann ich, wenn jemand mit einem konkreten Anliegen kommt, versuchen dabei zu unterstützen, dann mit anderen Stellen auch in Kontakt zu treten. Also, dass ich in Gespräche gehe für diese Personen mit irgendwelchen anderen, sagen wir mal, Ämtern oder anderen Stellen.

Das könnte eine Möglichkeit sein. Es kann aber auch sein, dass wir die Institutionen, die mit einem bestimmten Thema arbeiten, also zum Beispiel das Thema Zwangsverheiratung, da die Initiative ergreifen und die verschiedenen Institutionen, die an der Stelle arbeiten, zusammenbringen und gemeinsam überlegen: Was können wir besser machen? Wie können wir die Strukturen ändern, dass die Menschen erstmal dafür sensibilisiert werden? Lehrer und Lehrerinnen zum Beispiel, wie die das in ihren Schulen oder Klassen mitbekommen, aber vielleicht auch die jungen Frauen und Männer, die davon betroffen sind, dass sie mitkriegen, dass es nicht okay ist, zwangsverheiratet zu werden und dass es Anlaufstellen dafür gibt, und die können mir auf die und die und die Weise helfen. Viel Gremienarbeit ist auch dabei, also Sensibilisierung und Öffentlichkeitsarbeit. In dem Bereich gibt es, glaube ich, viele Themen, die sehr tabuisiert sind. Zum Beispiel Zwangsverheiratung, aber auch Gewalt ist ein total tabuisiertes Thema. Gewalt in Beziehungen muss man immer wieder benennen, immer wieder darüber reden und den Menschen dabei helfen ein Bewusstsein dafür zu entwickeln, dass das nicht okay ist und, dass man dagegen was machen kann.

Oliver Fourier: Wo enden denn ihre Möglichkeiten? Also wenn jemand zu ihnen kommt?

Friederike Stibane: Naja, ich kann nur so viel tun, wie die Menschen auch möchten. Wenn jemand zum Beispiel, um dabei zu bleiben, aus einer gewaltvollen Beziehung raus will, dann kann ich die Person dabei unterstützen und ihr Hilfestellung geben, wo sie Ansprechpartner*innen findet. Aber den Schritt machen muss sie selbst, und das ist für die meisten sehr schwer, das weiß ich. Die meisten brauchen mehrere Anläufe, um den Schritt dann tatsächlich zu schaffen. Ich kann nicht für die Menschen die Entscheidungen treffen, das können sie immer nur selbst.

Oliver Fourier: Haben sie Kooperationspartner, auf die sie verweisen können? Sie hatten ja schon angedeutet, viel Gremienarbeit, Zusammenarbeit mit anderen Institutionen. Welche Institutionen kommen denn so mit ins Boot?

Friederike Stibane: Also, da gibt's ganz viele. Gerade hier in Gießen gibt's wirklich richtig viele. Also das ist Wildwasser, oder die Frauenhäuser, oder pro Familia, aber natürlich auch die Polizei, oder die Gießener Hilfe, die Opfer unterstützt, auch mit vor Gericht geht zum Beispiel, bis hin zu kleinen Vereinen oder Initiativen, die auch sehr engagiert sind, Menschen zu unterstützen. Es gibt den Verein, Angekommen in Gießen, die mit Leuten Sprachkurse machen oder denen aber auch helfen, mal ein Formular auszufüllen. Also, die Bandbreite ist riesig, und ich glaube, dass ich da sehr, sehr gut vernetzt bin in der Stadt, sehr viele Initiativen und Vereine und auch Institutionen kenne. Das ist auch meine Funktion, so ein bisschen als Lotsin zu fungieren. Die Leute kommen hierher, haben ein Paket von Problemen, die meistens nicht mit einem Gespräch oder mit einem Kontakt gelöst werden können, sondern es braucht viele Kontakte und viele Experten und Expertinnen in der Unterstützung. Da bin ich, glaube ich, diejenige, die dann sagen kann: „Den Teil des Problems kann man da vielleicht angehen und einen anderen Teil, da muss man mit dem und dem sprechen.“ Das ist so eine so ein Mosaik, was ich dann zusammensetze.

Oliver Fourier: Was für Auswirkungen hat denn Diskriminierung bei den Betroffenen? Wie äußert sich das teilweise? Was sind da so ihre Erfahrungswerte über die ganzen Jahre, die Sie die Arbeit machen?

Friederike Stibane: Also, wenn Menschen länger diskriminiert werden, ich gehe jetzt nicht davon aus, dass einmal jemand was Blödes sagt, sondern Diskriminierung zieht sich in aller Regel über einen langen Zeitraum. Die davon betroffenen Menschen, die fangen an sich selbst zu zweifeln. Die verlieren den Glauben daran, dass sie toll sind, dass sie so, wie sie sind, okay sind, sondern fangen irgendwann an, sich in Frage zu stellen und vielleicht das zu glauben, was sie da immer gesagt kriegen. Was weiß ich, zum Beispiel: „Du bist zu dumm, du gehörst hier nicht her.“

Irgendwie solche Themen. Dann verliert man das Selbstvertrauen, und dann verliert man auch die Energie und die Lust, Dinge in die Hand zu nehmen und das eigene Leben zu gestalten und zu sagen: „Ja, ich bin die, die ich bin, und egal, ob das jemand anders gefällt oder nicht gefällt! Das ist mein Weg, und den gehe ich jetzt!“ Sondern man lässt sich ausbremsen und dann kann man das eigene Leben immer weniger gestalten oder genießen. Zu sagen, ich arbeite in meinem Beruf, zum Beispiel Schreinerin, weil er mir Spaß macht. Wenn mir dauernd jemand sagt: „Was willst du eigentlich? Du kannst das nicht, du bist doch eine Frau. Du bist dafür nicht stark genug.“ Dann ist die Gefahr groß, dass man auch wirklich die Lust daran verliert und sich einfach abhalten lässt und dann irgendwas macht, nur nicht mehr das, was einem Spaß macht.

Oliver Fourier: Spielen denn bei ihrer Arbeit auch andere Diskriminierungsmerkmale als, beispielsweise, das Geschlecht eine Rolle? Wir haben das zwar auch eben schon mal angesprochen, z.B. andere Traditionen, aber was gibt es sonst noch, was Ihnen im Alltag begegnet?

Friederike Stibane: Geschlecht, sexuelle Orientierung und Identität auf jeden Fall. Also Trans*menschen haben es wirklich sehr schwer, und das wird hier immer wieder oder immer häufiger auch deutlich. Eine weitere Kategorie ist natürlich Herkunft, also „biodeutsche“ oder zugewanderte Menschen, aber auch Hautfarbe. Ich glaube, das sind die Hauptkategorien, aber es geht schon auch weiter. Also, es sind zum Beispiel auch so Kategorien, wo jemand in der beruflichen Hierarchie steht, je weiter untern, desto stärker von Diskriminierung betroffen. Oder aber auch Bildungsabschlüsse. Und auch Religion ist ein Thema, auf jeden Fall bei Frauen, vor allen Dingen, wenn sie Kopftuch tragen. Bei muslimischen Frauen gab es auch schon öfters Anfragen.

Oliver Fourier: Was kann man denn tun, wenn man Diskriminierung erlebt? Bei anderen, bei sich selbst? Was ist denn Ihr pauschaler institutioneller, aber auch ihr persönlicher Rat?

Friederike Stibane: Wenn man erlebt, dass andere diskriminiert werden ist es, glaube ich, immer ganz toll, wenn man sich zu dieser Person stellt. Also wenn man dieser Person den Rücken stärkt. Man muss nicht immer den Angreifer oder die Angreiferin selbst angreifen, also verbal, ich rede vom verbalen Angriff, sondern man kann auch einfach zu der Person, die diskriminiert wird, hingehen und sagen: „Komm, wir gehen zusammen aus der Situation raus.“ Oder: „Es tut mir leid, dass sich da jemand blöde anspricht.“ Das, glaube ich, wäre toll, wenn das immer ginge und wenn das alle machen würden. Ich weiß, dass das schwierig ist. Es ist auch oft schwierig in der Situation selbst. Viele Diskriminierungen sind ja sehr unterschwellig und nicht so offensichtlich. Diese Unterschwelligkeit, diese subtilen Geschichten auch sofort einzuordnen, das ist manchmal nicht so einfach. Mir selbst geht es manchmal so, dass ich durch eine Situation gehe und eine halbe Stunde später denke ich: Was war das jetzt, das war doch total schräg! Dann ist aber die Situation vorbei, das ist halt blöd. Also von daher, ist es nicht ganz einfach. Aber je öfter man das reflektiert, desto sensibler wird man natürlich dafür, auch unterschwellige Diskriminierungen als das zu verstehen, was sie sind, und dann vielleicht auch schneller zu reagieren. Das ist so das eine. Das andere ist natürlich, wenn jemand diskriminiert wird, ist es auf jeden Fall eine sehr gute Idee, sich Hilfe zu suchen und nicht alleine damit zu bleiben, sondern jemanden zu suchen, der einen da unterstützen kann. Klar, erst mal eine Freundin oder einen Freund vielleicht, aber dann auch professionelle Hilfe.

Oliver Fourier: Wie müssen sich denn Institutionen und die Gesellschaft ändern, um Geschlechtergerechtigkeit Wirklichkeit werden zu lassen?

Friederike Stibane: Das ist eine ganz schwierige Frage.

Oliver Fourier: Deswegen gehört sie hier rein.

Friederike Stibane: Ich denke schon, dass die wenigsten diskriminierend sein wollen. Aber die meisten haben in ihrem Leben gelernt, sich mehr oder weniger Wert zu fühlen als andere. Das für sich selber zu reflektieren, also sensibel zu werden für Ungleichheiten und dass man Menschen verschiedene Wertigkeiten beimisst, aufgrund ihres Geschlechts oder ihrer Herkunft oder irgendwas. Darüber müssen wir reflektieren. Erst dann, glaube ich, kann eine Verwaltung und eine Gesellschaft tatsächlich diskriminierungsfrei oder diskriminierungsarm werden. Aber ich fürchte, davon sind wir schon noch ganz schön weit weg.

Oliver Fourier: Wo erfahren denn die Institutionen Hilfe und Unterstützung, wenn sie mal Hilfe und Unterstützung benötigen? Es gibt vielleicht auch Situationen, wo sie angegriffen werden oder wo sie selbst als Institution oder als Person, die in der Institution arbeitet, Hilfe brauchen, weil sie einfach an ihre Grenzen kommen.

Friederike Stibane: Im Wesentlichen durch andere Institutionen. Das ist ein positiver Effekt einer guten Vernetzung. Ein Lieblingsfeindbild für manche ist ja das Gendersternchen. Angenommen eine Institution setzt das durch, und die werden dann angeschossen von irgendwem und mit Leserbriefen bombardiert, dann gibt es andere Institutionen, die aus einer fachlichen Perspektive oder auf einer irgendwie übergeordneten Perspektive da drauf gucken, die sich äußern können und das auch tun. Dafür haben wir einen Fachdiskurs. Die wenigsten machen irgendwas völlig aus dem hohlen Bauch und als einzige, da es in der Regel eine Diskussion um aktuelle Themen gibt. Wir haben nicht unbedingt immer alle die gleiche Meinung oder das gleiche Bild oder sagen: Da geht's lang. Der Gedanke ist, dass nicht alle einer Meinung sein müssen, es dürfen auch durchaus unterschiedliche Meinungen nebeneinander stehen bleiben und trotzdem kann man sich gegenseitig unterstützen, weil man versteht, aus welcher Perspektive eine Institution diesen Weg geht und nicht einen anderen. Sagen wir mal zum Beispiel, das Vorgehen der Polizei, wenn eine Anzeige erstellt wird, oder wenn sie Kenntnis von einem Vorgang oder irgendeiner Diskriminierung bekommen, ist sicherlich ein grundsätzlich anderes als der von irgendeiner, sagen wir mal, Opferhilfe-Organisationen. Aber deswegen ist es nicht falsch. Es ist aus einem völlig anderen Auftrag und aus einem anderen Verständnis heraus, aber trotzdem sind beide Positionen, sofern sie miteinander im Gespräch sind, sofern die wissen, die machen das deshalb so und die anderen machen es aus dem anderen Grund anders, richtig und die können sich gegenseitig unterstützen, und das finde ich wichtig. Dazu braucht es aber ganz viel Kommunikation.

Oliver Fourier: Wäre denn so ein Antidiskriminierungsnetzwerk, die Antidiskriminierungsstelle ist ja noch im Aufbau mit dem Verein, wäre das eine Bereicherung beziehungsweise gute Ergänzung für die Arbeit hier, für das Büro?

Friederike Stibane: Auf jeden Fall, weil es nochmal ganz dezidiert diesen Fokus auf Antidiskriminierung hat. Viele Institutionen tun das, also arbeiten im Bereich Antidiskriminierung, aber das Hauptthema oder das zentrale Thema ist ein anderes. Diskriminierung und Antidiskriminierung ist das, was mit reinspielt, genau wie auch die ökonomische Situation mit reinspielen kann. Das sind so verschiedene Facetten, die uns beschäftigen in unserer Arbeit. Wenn es jetzt einen Verein gäbe, der sich nur mit Antidiskriminierung befasst und in diesem Kontext zum Beispiel auch Schulungen anbietet oder auch als zentrale Anlaufstation fungiert und die Leute sehen: Ah, da gibt's ein Antidiskriminierungsverein, die haben nicht irgendeinen anderen Schwerpunkt, sondern das ist wirklich deren Schwerpunkt. Das ist, glaube ich, sehr hilfreich.

Oliver Fourier: Dann haben wir natürlich auch das Thema Corona Pandemie. Es sind jetzt schon ein paar Monate ins Land gegangen. Hat Corona Diskriminierung in irgendeiner Weise verändert?

Friederike Stibane: Ja, absolut! Das Rathaus war ja eine Zeit lang ganz zu oder wirklich nur als Ausnahmefall überhaupt zu erreichen. Die Menschen, die hierherkommen, rufen in aller Regel nicht vorher an, sondern die kommen einfach, und das war einfach nicht möglich. Das ist schon mal echt blöd gewesen. Das fängt jetzt an, sich zu ändern. Aber ganz grundsätzlich finde ich, dass in dieser ganzen krisenhaften Zeit absolut deutlich wurde, dass wir meilenweit weg sind von jeder Form von Gleichberechtigung. Wer ist zu Hause geblieben und musste für die Kinder sorgen und hat gleichzeitig aber gesagt bekommen vom Arbeitgeber: „Bitteschön, mach halt Homeoffice, sieh zu, wie du Klarkommst!“ Hat also weitere Forderungen gestellt, was die Arbeit betrifft und die Kinder sind selbstverständlich von den Frauen betreut worden, und von den Männern kam vielleicht mal etwas Unterstützung, aber weit weg von irgendeiner gleichberechtigten Aufteilung. Dann sollten sie auch noch Homeschooling machen, also völlig irrsinnig. Neben allem anderen, also Betreuung, Homeschooling vielleicht auch noch für die alten Eltern, noch einkaufen oder so. Die Kinder durften nicht zu den Großeltern, nicht zu den Nachbarn. Ich finde, wir sind um 40 Jahre zurückgeworfen, und ganz besonders toll finde ich, also ironisch, diese ganzen Krisenstäbe, die es gab, auf Bundesebene bis in die kleinste Kommune, sind in aller Regel Männer gewesen. Da waren Frauen, die Expertinnen für die Situation von Frauen, schlicht nicht dabei. Die waren nicht erwünscht, behaupte ich. Entsprechend wurden auch die Perspektiven nicht berücksichtigt und werden sie bis jetzt noch nicht, das finde ich tatsächlich ein Unding.

Oliver Fourier: Wie beeinträchtigten denn diese Corona-Vorsichtsmaßnahmen/Regeln, also Kontaktverbot etc., die Lebens- und Entfaltungsmöglichkeiten beeinträchtigt von den Menschen, die zu Ihnen kommen?

Friederike Stibane: Am Anfang sind wir davon ausgegangen, wenn die Menschen nicht mehr vor die Haustür dürfen, sondern im Familienverbund zu Hause sind und aufeinander angewiesen sind, dass Situationen sehr leicht eskalieren können, insbesondere wenn es vorher schon schwierig war. Die Gewalt im häuslichen Umfeld wird in aller Regel von Männern gegenüber Frauen oder auch Kindern ausgeübt. Das heißt, wir haben versucht, frühzeitig Ausweichmöglichkeiten zu organisieren, durch eine Erweiterung des Angebots aus dem Frauenhaus, also von Zufluchtsorten. Das haben wir sehr früh gemacht und das ist auch gelungen. Da gab es also eine sehr tolle Zusammenarbeit von allen Beteiligten, das hat mich sehr gefreut. Das konnten wir bereitstellen. Wir haben aber erst mit der Zeit festgestellt, dass es viele Hürden gibt, diese Angebote auch in Anspruch zu nehmen. Natürlich ist es schwierig, wenn man in einer beengten Situation mit dem Gewalttäter zusammenlebt, dann eben anzurufen und zu sagen: Hallo, ich brauche eine Zuflucht. Oder einfach zu gehen, Koffer zu packen, vielleicht irgendwas einzupacken und die Kinder unter den Arm zu klemmen und zu gehen.

Oliver Fourier: Und die Zeit, die man verbringt, mit der Person, hat sich ja quasi auch erhöht.

Friederike Stibane: Eben, man bleibt also zusammen. Ein anderes Problem gibt es mit Menschen aus dem queeren Spektrum, die ja auch häufig von Diskriminierung besonders betroffen sind. Besonders Menschen, die man sozusagen auch so lesen kann, also Trans*menschen, die sich outen als Trans*menschen zum Beispiel. Die haben auch keine Orte mehr gehabt, wo sie mal aus irgendeiner engen Situation raus können und sich treffen können und gegenseitig unterstützen können. Auch da ist die Situation noch besonders schwierig, denke ich.

Oliver Fourier: Was würden sie denn den Diskriminierenden schon lange gern einmal sagen? Was sollten die ihrer Meinung nach wissen?

Friederike Stibane: Ich finde es immer so erschreckend, wenn Menschen, die selbst diskriminiert werden, selbst zu Diskriminierenden werden. Es gibt viele, die werden diskriminiert, weil sie arbeitslos sind oder wenig Bildung haben, oder irgendeinen Job, den andere nicht machen wollen. Dann denke ich: Mensch, denkt doch mal nach! Denkt doch einfach mal nach, was das bedeutet! Das ist aber sowas wie: „Ich stehe am Ende der Kette, und dann suche ich mir jemanden, den ich treten kann, damit ich mich besser fühle.“ Das ist so ein Mechanismus. Man diskriminiert andere, um sich selbst wertvoller zu fühlen, um sich selbst über diese andere Person zu stellen. Das ist einfach nur erbärmlich! Sich das mal vor Augen zu halten: Niemand ist besser als die anderen. Das ist scheiß egal welches Geschlecht, welche sexuelle Orientierung, welche Herkunft, welche irgendwas. Es ist egal, jeder Mensch ist wertvoll und man ist nicht wertvoller, weil man hellere Haut oder größere Füße hat. Das ist Quatsch!

Oliver Fourier: Gibt es denn noch etwas, was sie den Zuhörer*innen gern sagen würden, was bisher in dem Gespräch nicht zur Sprache kam bzw. zum Ausdruck kam?

Friederike Stibane: Wir reden ja über das Thema Antidiskriminierung und ich finde das unheimlich toll, wenn ich mitkriege, dass es gerade bei jüngeren Leuten einen relativ hohen Grad an Sensibilisierung gibt. Nicht bei allen, das ist völlig klar, aber bei ziemlich vielen. Also zum Beispiel, die sich gegen Rassismus stellen oder eben gegen Geschlechterungerechtigkeiten. Das finde ich total klasse, und ich glaube, die machen vor, dass man sich nicht im Antidiskriminierungsverein engagieren muss oder irgendeine entsprechende Stelle irgendwo suchen muss, um Antidiskriminierung zu leben und voranzubringen, sondern dass das einfach in unser aller Alltag auch selbstverständlich gehen kann. Das finde ich toll, das finde ich sehr, sehr schön, und das möchte ich gerne auch unterstützen und einfach auch mal wertschätzen, dass es das gibt. Das finde ich klasse und denke: Macht so weiter!

Oliver Fourier: Ja, Frau Stibane. Vielen Dank für das ausführliche Gespräch und die Informationen und vielen Einblicke, die sie uns in Ihre Arbeit und das Engagement gegeben haben. Vielen Dank für das Interview.

Friederike Stibane: Sehr gerne!